„Hier stehe ich! …“

Standpunkte, die bewegen

Von Ludger Verst

Festvortrag bei der Preisverleihung zum Reformationsjahr 2017 am 11.11. 2017 in Wiesbaden

Lieber Herr Weihbischof, lieber Herr Stadtdekan,
liebe Preisträgerinnen und Preisträger,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

so ziemlich am Ende eines hochdekorierten Jubiläumsjahres zur Reformation noch etwas Nicht-Gesagtes und Wichtiges beizutragen, empfinde ich als eine echte Zumutung. Zumal in einem so hochsensiblen wie diffusen, thematisch unübersichtlichen Gelände wie dem von Kirche, Kunst und Kultur. Da reden gerne viele mit. Und nicht selten hat es den Anschein, als ob sich der eine des anderen gern bemächtige: Kunst steht der Kirche im Allgemeinen gut — und auch umgekehrt: Ein Gottesdienst im Museum ist ein reizvolles Angebot.

Um solche Funktionalisierungen, Fremdbestimmungen oder andere Übergriffigkeiten wird es heute Abend nicht gehen. Schon deshalb nicht, weil es dem Anliegen und auch dem Anspruch des Wiesbadener Projektes zu aktueller Kunst und Literatur diametral entgegenstünde. Das zeigen die bildkünstlerischen und schriftstellerischen Ergebnisse dieses Projekts, von denen ich einige bereits sehen und lesen konnte, die zu würdigen und im wörtlichen Sinne zu „preisen“ gleich jedoch anderen zukommen wird.

Die tatsächliche Zumutung, die ich heute Abend hier empfinde und — Sie werden sehen — auch Ihnen zumuten werde, ist eine andere. Sie erwächst aus dem thematischen Profil dieses Projekts, nämlich sich als „Positionierung zur Transzendenz“ und als „Worte aus der Zumutung Gottes“ zu verstehen. Oder wie die Veranstalter es im Katalog zum Kunstprojekt formulieren: „Das Jahr 2017 sollte uns Grund geben, über Kirche als Resonanzraum für viele Glaubensstimmen nachzudenken.“¹

Wie entsteht Resonanz? Wie kann ich überzeugend einen Standpunkt vertreten, der mit Standpunkten anderer in Berührung kommt? Wie mich in meinem Leben positionieren (ich muss es ja als leibliches Wesen) und dadurch auch andere berühren? Ist solcherart Resonanz angesichts der Heterogenität von Gruppen und Verbänden und erst recht von Großinstitutionen nicht naiv, ein frommer Wunsch?

„Wer eine Sicht des Lebens zeigen will, muss Gesicht zeigen.“

Meine Überzeugung ist: Standpunkte brauchen Inhalte, Gefühle, Gesten, die gezeigt und erwidert werden. Insofern sind sie nie nur Austausch von Informationen, sondern Kommunikation. Ich zeige jemandem etwas, wovon ich überzeugt bin, und ich kann das nur tun, indem ich im Zeigen einer Anschauung mich selbst zeige. Das gilt erst recht bei Dingen, die das Leben als Ganzes betreffen: „Wer eine Sicht des Lebens zeigen will, muss Gesicht zeigen (M. Meyer-Blanck).“ Wer kommuniziert, gehört mit in den Vermittlungsprozess und ist nicht nur geschickter Arrangeur oder neutraler Informationslieferant, nicht nur Elementarisierer, Moderator oder Fachmann, sondern über dies hinaus auch selbst religiöses Zeichen, ohne das es gar keine Botschaft geben könnte. Was eine Information in den Rang einer Botschaft hebt und ihr somit Resonanz verschafft, ist ihre Inhalts- und Begegnungsqualität: Ein bewegender Eindruck sucht seinen entsprechenden Ausdruck. Ich zeige dir etwas; du musst es nicht toll finden. Aber ich zeige dir etwas, wozu ich selbst eine lebendige Beziehung habe. Botschaften werden vom Empfänger in ihrer je eigenen Relevanz (+) oder Nicht-Relevanz (-) erspürt, angenommen oder abgelehnt. Der Sinn einer Botschaft liegt nicht in oder hinter den Worten eines Textes; er vollzieht sich im Empfänger. Dort geschieht das Entscheidende. Sinn ist nicht etwas, was hinter oder tief in den Sätzen einer Sprache steckt, sondern etwas, das sich ereignet, wenn unterschiedliche Erfahrungen aufeinanderstoßen, Fernliegendes nahekommt, Texte in Kontexte geraten und so neu Bedeutung erlangen. Christlich gesprochen: Meine Sicht auf das Leben Jesu ist der Versuch einer Neuinszenierung jesuanischer Wirklichkeit in meiner Welt.

Bedeutsamkeit ist eine Frage inneren Beteiligtseins.

Das heißt: Bedeutsamkeit ist vor allem eine Frage inneren Beteiligtseins. Die Perspektive der Theologie aber ist oft eine andere. Sie geht zu sehr von einer an und für sich feststehenden Position außerhalb der Kommunikationsprozesse und Kommunikationsweisen der Menschen aus. Es sind aber nicht die Sachverhalte, sondern die Akteure und ihre Geschichten, die den Motivationsrahmen liefern für die Frage nach Gott, für die Sehnsucht nach Rettung, Solidarität und Glück. Dies ist die Stärke von Kunst: Bilder sprechen zu lassen und nicht Experten, die es wissen oder besser wissen.

Am Beginn jeder Erkenntnis steht eine sinnliche Erfahrung, um welche künstlerische Form es sich auch immer handelt. Dann aber — und hier liegt das Problem — transformiert und abstrahiert sich die Erfahrung; komplexere Formen der Reflexivität entstehen und die Sinnlichkeit verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Das Thema dieses Verlustes, den Reflexivität notwendig mit sich bringt, hat als erster der Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten (schon 1750), später dann auch Arthur Schopenhauer aufgegriffen. Es ist die Klage um das Verlorene, was sich häufig als das verlorene Sinnliche erkennen lässt. In der Kunst und auch schon in der Mythologie ist sie ein Thema. Der Orpheus-Mythos zum Beispiel spiegelt diese Tragik des Verlustes, die in der Philosophie und erst recht in der Theologie so gut wie keine Resonanz findet.

Baumgarten besteht auf dem Eigenwert sinnlicher Erkenntnis. Dem Gewinn begrifflicher Abstraktion entspricht ein Verlust des Sinnlich-Konkreten, der sich durch die Abstraktion als solche ereignet. Natürlich ist sinnlich Wahrgenommenes, also etwas als groß oder klein, stark oder schwach oder einfach als schön wahrzunehmen, noch kein Garant für den Wahrheitsgehalt einer Erkenntnis. Aber sinnliche Erkenntnis ist — so Baumgarten — nicht per se „die Mutter des Irrtums“. Es geht ihm um das Innere einer Wahrheit, die „wahrste Empfindung“, wie er es nennt. Er meint damit keine Wahrheit im Sinne einer abstrakten, aussagenlogisch verallgemeinerbaren Erkenntnis. Der Stuhl, den ich sehe, ist nicht dadurch unbezweifelbarer vorhanden, dass ich seine Wahrnehmung in den Superlativ setze. Es muss also eine andere Ebene gemeint sein. Baumgarten fragt nach der Form der Verbundenheit von Subjekt und Wahrgenommenem, nach der Intensität von Wahrnehmung. Es geht ihm um die Beziehung der Wahrnehmung zum Subjekt, um die Intensität dieser Beziehung. Hier, auf der Beziehungsebene von Kommunikation, verzeichnen die Kirchen hohe Verluste. Nicht, weil die Kommunikation des Evangeliums heute weniger relevant oder die Kundschaft um einiges komplizierter geworden wäre. Es fehlt an Intensität. Darum sind viele der kirchlichen Sprechversuche in den Kommunikationen des Alltags heute stumpf und irrelevant. Sie betreffen nicht. Sie berühren nicht.

Ich möchte Ihnen sagen, warum. Die kirchliche Sprache ist keine Beziehungssprache. Begriffe wie „Opfer“, „Erlösung“, „Auferstehung“, „Himmelfahrt“, „Jüngster Tag“, die als Denkmittel in der Logik der Spätantike lange funktioniert haben, sind heute keine überzeugenden Kennmarken des Christlichen mehr. Sie sind nicht falsch. Sie haben Geschichte und haben Tradition. Aber das Verfallsdatum solcher Glaubensbegriffe ist längst überschritten. Es wundert darum nicht, dass die Fragen und Zweifel, die sich heute melden, innerhalb kirchlicher Lebensordnungen so gut wie keinen Resonanzraum mehr haben. Sie finden innerhalb wie außerhalb der Kirchenöffentlichkeit keine mehr wirklich offene, allenfalls eine apologetische Bearbeitung. Dieses fundamentale Relevanzproblem der Kirchen, ihre Unfähigkeit, so zu kommunizieren, dass Gesagtes verstehbar und erfahrbar wird, lässt sich allerdings nicht allein durch Kommunikationsoptimierung lösen.

Manchmal denke ich, dass es besser wäre, alles Systemhafte von Religion und Konfession, das heißt, deren dogmatische Antiquariate aus dem Verkehr zu ziehen und sich stattdessen darauf einzulassen, dass Religion schlicht mit Beziehung, mit Intensität zu tun hat, einer Haltung, in der wir auf die Kraft vertrauen, die uns unverfügbar wie überraschend zukommt und uns gerade in Gesten menschlicher Achtsamkeit und Zuneigung geschenkt wird.

Kunst als „fühlende Anerkennung des existenziellen Augenblicks“

Können Kunstprojekte hier weiterhelfen? Die Organisatorinnen dieses Kunstprojekts haben zu Beginn mit den Ausschreibungen an mögliche Bewerberinnen und Bewerber — so nehme ich mal an — keine Kartoffelgrafiken mit den so genannten Sinus-Milieus verschickt, um am Ende die passenden Kunstwerke für die passenden Kirchen im Wiesbadener Stadtgebiet zu finden. Soziografie mag ihre Bedeutung haben auch für die Pastoral, aber die Kunst dieses Projektes besteht ja gerade nicht in Passgenauigkeit, sondern in einer Intensivierung von Wahrnehmung. Die bildnerischen und auf andere Weise natürlich auch die poetischen Werke präsentieren Wahrheit als Wahrnehmung, also nicht statisch, feststellbar, verallgemeinerbar, sondern fühlend, bewegend, existenziell. Künstlerische Werke ermöglichen, so formuliert es Sebastian Leikert, eine „Wahr-Nehmung im Sinne einer fühlenden Anerkennung des existenziellen Augenblicks“².

Besonders anschaulich wurde mir, was mit Wahr-Nehmung in diesem Sinne gemeint sein mag, in der Beschreibung des Werkes von Birgit Weber mit dem Titel „Im Flow“. Die Künstlerin, die an diesem Kunstprojekt teilgenommen hat, lässt den Betrachter auf fünf großen Zeichnungen an ihrem Flow-Erlebnis beim Zeichnen teilhaben. Ich möchte dazu eine Stelle aus dem Katalogtext von Susanne Claußen zitieren, den sie interessanterweise mit „Paradieszeichnungen“ überschrieben hat:

Flow nennt man das glückhafte Erleben einer restlosen Konzentration auf eine Tätigkeit und das vollständige Aufgehen in ihr. Flow ist je nach Definition wie Trance oder ihr zumindest nahe. Flow ist etwas Wunderbares (…) Wo erst noch abgezeichnet wurde, wird das Arbeiten immer freier. Immer fester wird ihr Strich, immer sicherer. Doppelungen und Unschärfen sind dabei kein Ausdruck von Korrekturbedürfnis oder Unsicherheit. Im Gegenteil: Betonungen entstehen so, genaue Abbildungen dessen, was Weber gerade sieht und erlebt. „Richtig“ und „falsch“ als Kategorien, die es beim Abzeichnen, bei der Studie, ja durchaus noch gibt, fallen weg. Es bleibt das künstlerische Tun. Weber führt uns keinen Kontrollverlust vor. Flow ist eben nicht der Verlust von Kontrolle wie in einem Rausch, sondern eher ein In-eins-Gehen von Tun und Wollen. Im Flow ist man völlig eins mit sich. Einssein mit sich und dem, was man tut, das ist ein paradiesischer Zustand.“³

Die geschilderte künstlerische Erfahrung, die, für sich genommen, einzigartig ist, mag im übertragenen Sinn so etwas wie ein paradigmatischer Hintergrund für Gotteserfahrung sein. Theologie und Kirche könnten ihre Arbeit als eine Investition in Sinnlichkeit verstehen im Sinne einer am Blick Jesu geschulten Wahrnehmungskunst. Daraus könnten beide womöglich lernen. Der Gott Jesu Christi ist ja keine neutrale, statische Größe, über die sich umstandslos und gefahrlos reden ließe, sondern eine dramatische menschliche Erfahrung, die mich zum Erzählen drängt und die im Erzählen, in bestimmten Atmosphären, in bestimmten Gesten auch für andere spürbar werden kann. Wahrheit an sich gibt es nicht, wie es auch Gott an sich nicht gibt. Wir können die Wahrheit Gottes nicht durch begriffliche Objektivität absichern. Wir können auf das schauen, was in Erscheinung tritt durch Wahrnehmung. Die in diesem Wettbewerb ausgezeichneten literarischen Texte von Anke Dörsam („Kommen und Gehen“), Yannic Han Biao Federer („Nada“) und von Friedel Weise-Ney („Rattenfänger“) zeichnen sich durch genau diese poetische Wahrnehmungskunst aus. Wer die Dinge, wie sie sich zeigen, zur Quelle seiner Inspiration macht, identifiziert auch religiöse Rede nicht länger mit einem Handeln nach Regeln und dem Anwenden von lehrhaftem Wissen, sondern meint zunächst die ganz ursprüngliche Situiertheit des Menschen in seiner natürlichen, menschlichen und gesellschaftlichen Umwelt.

Wenn die Kraft, die wir für gewöhnlich Gott nennen, unmittelbar ansprechend ist

Es gibt in Begegnungen manchmal Momente, in denen etwas passiert, womit ich nicht rechnen kann: ein Bewegtwerden, in dem meine gewohnten Bilder und Gedanken für einen Augenblick sich öffnen, in einen Möglichkeits- und Ausdrucksraum gelangen, in dem die Spontaneität früher ist als meine herkömmlichen Interessen. Es ist ein nicht näher definierbarer Raum meiner selbst, in dem die Kraft, die wir für gewöhnlich Gott nennen, unmittelbar ansprechend ist. Dieser unverfügbare Moment des Sich-Angesprochen-Fühlens ereignet sich, er kann geschehen; es kann mir passieren. Er ist nicht planbar, nicht berechenbar und schon gar nicht dogmatisierbar. Es ist wie im Flow. Es ist eine berührende Stimmung, die mich gerade vom Definierten und Definierbaren wegführt, um mich neu auszurichten und neu zu bestimmen. Es ist eine aus der Sinnlichkeit aufsteigende, auf ein neues Hören und Sehen hin angelegte Stimmung, die sich als je eigene — als meine, als deine — innere Stimme vor Gott ereignet.

Das Atmosphärische zeigt sich hier als flüchtiger Kern einer Berührung, die mich bewegen will zum Anderen. Die Philosophie und auch die Theologie nennen dieses Berührtsein „Kairós“, einen günstigen Moment, die qualitative Seite der Zeit, in der die Zeichen für eine Begegnung günstig stehen. Um einen solchen Kairós geht es womöglich auch jetzt hier, in diesem Moment.

Standpunkte können bewegen.

(Ich danke Ihnen.)

 

Anmerkungen:

¹  Simone Husemann (Hg.): „Hier stehe ich!… — Standpunkte, die bewegen“. Aktuelle Kunst und Literatur zum Reformationsjahr 2017. Katholische Erwachsenenbildung Wiesbaden-Untertaunus und Rheingau / „Kirche und Kultur“ der Katholischen Kirche der Stadt Wiesbaden. Wiesbaden 2017, S. 8

² Sebastian Leikert: Schönheit und Konflikt. Umrisse einer allgemeinen psychoanalytischen Ästhetik. Gießen, Psychosozial-Verlag 2012, S. 51

³ „Hier stehe ich!… — Standpunkte, die bewegen“, S. 96f.