„Warum hast du mich verlassen?“

Zur Radikalität des Golgotha-Ereignisses

| Von Ludger Verst |

»Die letzten Stunden im Leben des Jesus von Nazareth« — der Sender RTL übertrug in dieser Woche vom Friedrichsplatz in Kassel die PASSION JESU als einen Live-Music-Act im Fernsehen. Eine coole Jesus-Gruppe mit E-Scootern unterwegs ins Neue (hessische) Jerusalem. Die Leidensgeschichte Jesu, neu interpretiert durch Popsongs, Bekenntnis-O-Töne und Menschen, die ein leuchtendes Kreuz durch die Innenstadt tragen, vier mal sechs Meter groß, 250 Kilo schwer. Und der Schauspieler Hannes Jaenicke führt als Erzähler durchs Programm.

Die Reaktionen des Publikums auf das Passions-Spektakel sind durchaus positiv. „Warum sollte Gott nicht auch durchs Privatfernsehen zu den Menschen sprechen?“, heißt es im Kommentar eines christlichen Medienmagazins. Ja, warum nicht? Als Autor und Moderator habe ich selbst vor Jahr und Tag in SAT.1 wochenaktuelle christliche Sendungen produziert. Und war überzeugt, dass das gut und wertvoll ist. Auf welcher Bühne dieser Welt sollten Religion und Passion, Erfüllung und Lebenssinn denn keine Rolle spielen?

Die Einbettung der Leidensgeschichte Jesu in ein kommerzielles Unterhaltungsformat gerät jedoch schnell an formale und ästhetische Grenzen. Hier: berührende Tiefe, dort: meist flache O-Töne von Mitmachenden nach dem Motto: „Jesus liebt mich. Seitdem läuft einfach alles besser.“ Und vor dem Abendmahl gibt es im Werbeblock des Senders noch schnell ein paar Appetitanreger. „Wo sind die Schokobons, wer hat die Schokobons versteckt?“

Am Ende steht ein Schrei.

Die Passion Jesu widersetzt sich einer harmonisierenden Rahmung und Vereinnahmung. Sie widersetzt sich den Klischees der Massen — von jeher. Das Wohltemperierte und Geschmeidige ist der Auffassung Jesu vom Leben fremd. Sein Lebenswerk ist kein Megahit, der sich kommerzialisieren ließe. Wenn man die Passionsgeschichte in der Schilderung der Evangelisten Markus oder Matthäus hört, wird klar: Die Geschichte Jesu endet nicht im »Hosianna« seines Einzugs in Jerusalem. Sie endet im Schrei am Kreuz. Wie auch unsere Erfahrungen mit dem Leben nicht nur in Gesänge münden, sondern manchmal eben gerade zum Himmel schreien. 

Dies ist das harte Faktum von Karfreitag: Am Ende des Leidensweges Jesu steht ein großer, ein verzweifelnder, herzzerreißender Schrei: „Mein Gott, mein Gott, warum — wörtlich: wozu hast du mich verlassen? (Mk 15,34; Mt 27,46; vgl. auch Ps 22,2). Wie kann der Vater seinen Sohn so im Stich lassen? In der Stunde seines Todes schweigen? Den Gerechten einfach scheitern lassen? — Kann es sein, dass nicht nur Jesus, um Gott ringend, auf Golgotha starb, sondern auch all unsere naiven Vorstellungen von Gott, vom »lieben Gott«, hier mit ihm gestorben sind?

Können wir das Geheimnis des Bösen durchdringen?

Die Theologie vieler Jahrhunderte baute — und baut hier und dort immer noch — auf eine Vorstellung, auf ein Konstrukt, das unter dem Namen Theodizee bekannt ist. Will sagen: Man will das Faktum, dass Menschen eben auch sinnlos leiden, mit Sinn ausstatten, indem man es mit dem Gedanken eines allmächtigen und zugleich barmherzigen Gottes spekulativ versöhnt. Solche Vorstellungen richten in den Köpfen und Herzen vieler, die glauben wollen, großen Schaden an. Sie verstellen den Blick auf die Welt. In der Welt wird gelitten und gestorben, ohne dass da ein Gott verantwortlich wäre. Für die Brutalität von Arbeits- und Konzentrationslagern, von Atombomben und Völkermorden kann kein Gott zur Rechenschaft gezogen werden. Auch die Hinrichtung Jesu auf Golgotha lässt sich nicht — auch nicht im Nachhinein — erlösungstechnisch einfach verrechnen. So als wäre dieser Tod in den Plänen Gottes immer schon vorgesehen gewesen. „Wer sind wir, dass wir das Geheimnis des Bösen durchdringen und Gott zu rechtfertigen vermögen?“, fragt der tschechische Theologe Tomáš Halík an dieser Stelle zurecht.

So führt uns der Karfreitag noch einen Schritt weiter und tiefer in das Geheimnis des Bösen dieser Welt hinein, ohne das sich das Wunder von Ostern gar nicht denken ließe. Wollte man dem Karfreitag symbolisch einen Ort, einen Raum zuordnen, dann wären dies der Dunkelkeller, die Unterwelt, das Zwielicht, der Abgrund. Von dieser Welt der Zwiespälte und Abgründigkeiten, wie sie sich uns ja täglich zeigt, wollen wir eigentlich nichts wissen, zumindest nicht mehr als nötig. Am liebsten würden wir die Augen davor verschließen — vor einer solchen Hölle.

Aber da sind wir schon mitten drin im diesem nächsten Satz des Glaubensbekenntnisses: dass Jesus „hinabgestiegen sei in das Reich des Todes“, in das Reich aller Tode, der kleinen und der großen — in den Karfreitagsraum der Nichtigkeit von Mensch und Welt. 

Kann man dies glauben?

Kann ein Toter noch ins Totenreich hinabsteigen und irgendetwas ausrichten? Auch wenn der Gedanke eine Zumutung ist: Mit dem Tod Jesu war ja der ganze Mensch, der ganze Jesus von Nazareth tot. Da war keine heimliche Restgröße, die irgendwie noch überlebt haben könnte. Jesus ist den Weg alles Irdischen gegangen. Das ist nichts Anderes als das Einmaleins der Biologie. Wenn die Evangelien über Jesus, den Christus, sprechen, dann ignorieren sie diese Tatsache nicht. Aber sie bleiben nicht bei dieser Feststellung stehen. Sie bringen eine neue Erfahrung zum Ausdruck: So, wie Jesus den Weg alles Irdischen gegangen ist bis nach Jerusalem, so geht Menschsein. Nicht nur in Bethlehem wird Gott Mensch, sondern auch hier auf Golgotha in der Stunde des Todes. Davon sprechen die Evangelien. Jesus geht den Weg alles Irdischen radikal, bis an den Wurzelgrund der Existenz. Eben ganz: in alle Höhen und Tiefen, in alle Für und Wider, durch alles Gute und alles Böse — ganz Gott und ganz Mensch.

Wenn also das Credo vom Abstieg Jesu in das Reich des Todes weiß, dann hält es für uns bildhaft ein Erfahrungswissen fest. Zur Zeit Jesu rechnete man in Israel mit einem Totenreich im Inneren der Erde. Nicht als Feuer oder Folter, sondern als Tren­nung von Gott und der Gemeinschaft der Glaubenden. „Bei den Toten denkt niemand mehr an dich. Wer wird dich in der Unterwelt noch preisen?“ (Ps 6,6). In der Vorstellungswelt Israels lag über dem Totenreich ein dichter Schleier, der Schleier des Vergessens. Und das war immer schon und ist gewiss auch heute das Schlimmste: einfach vergessen zu sein als ein belangloses Nichts — ob dein Leben erfolgreich oder dein Schicksal himmelschreiend war.

Das ist die unheimliche Wahrheit des Karfreitags: ohne alle Illusionen bis an den äußersten Rand menschlicher Schicksale zu blicken. — Wozu? — Was wüssten wir über Jesus und was wüssten wir über uns, wenn wir vor den Abgründen des Lebens unseren Blick verschließen würden?

© 2024 Ludger Verst

Ein Gedanke zu “„Warum hast du mich verlassen?“

  1. Zitat: „Können wir das Geheimnis des Bösen durchdringen?

    ist das Böse vielleicht unsere Lebensgrundlage? Gäbe es uns vielleicht gar nicht ohne das Böse? Ist das Böse im Sinne des Lebens notwendig? Provokante Fragen, die eventuell ihre Berechtigung haben. Erkenntnis, also Bewusstsein gibt es nur durch Unterscheidung. Was wüssten wir von der Dunkelheit wenn es das Licht nicht gäbe? So gesehen wäre das erste Böse der Urknall, die Schöpfung aller Gegensätze. Über diese Problematik hat sich auch Luther Gedanken gemacht. Er gab zu bedenken „Gott kann nicht Gott Sein“ – Betonung liegt auf Sein – „er muss zuvor ein Teufel werden“ Kommt also das Böse von Gott!? Ist Gott und der Teufel ein und dasselbe? Gehen wir vielleicht mit dem Bösen – also unsere Lebensenergie – zu leichtfertig um? C.G. Jung hat sich hierüber sein Leben lang Gedanken gemacht. Besonderes Ziel seiner Kritik war die theologische Doktrin der privatio boni. Jung meinte, dass dessen Kernaussage das Böse verharmlost, indem darin behauptet wird, dass das Böse nur existiert, wenn das Gute abwesend ist.

    Man kann wohl sagen, dass der Preis des Lebens die Spaltung ist. Damit wird zwangsläufig das Böse zum existenziellen Problem des Menschen.

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