Mystik und Politik

Zum 90. Geburtstag meines Lehrers Johann Baptist Metz

| Von Ludger Verst |

Von 1979 bis 1986 habe ich in Münster Theologie studiert. Während ich in den ersten Jahren vor allem in der pastoraltheologischen Sektion meinen Schwerpunkt hatte, entwickelte sich nach und nach ein Interesse für Biblische und vor allem für Systematische Theologie. Ich wollte die Grundlagen theologischen Denkens kennenlernen, ihre Kategorien und ihre großen Themen. Johann Baptist Metz, seit 1963 in Münster Professor für Fundamentaltheologie, galt als ein dem linken Politspektrum zuzurechnender, kritischer Theologe — wohl auch, weil er sich seit seiner „Theologie der Welt“ (1968) in der deutschsprachigen Theologenszene nachdrücklich für Befreiungstheologie starkmachte.

Für mich ist die Begegnung mit dem Menschen und dem Theologen Johann Baptist Metz ein Glücksfall fürs Leben. Ich spräche heute anders, ich dächte heute anders, hätte es diesen Lehrer für mich nicht gegeben. Natürlich waren da die Vorlesungen, die mich als rhetorische Feuerwerke faszinierten, wie ich ohnehin das Habituelle an ihm mindestens unterhaltsam fand. Aber das ist es nicht, allenfalls vordergründig. Je länger und je näher ich ihn erleben konnte — in Haupt- und Oberseminaren, später auch auf Besuchen bei ihm in der Kapitelstraße oder in diversen (eigenen) Interviews fürs Radio — umso mehr wurden mir die Leidenschaft und Tiefgründigkeit seiner Rede von Gott, die immer zugleich eine Rede vom Menschen ist, bewusst.

Das Märchen vom Hasen und dem Igel – gegen den Strich gelesen

Heute, an seinem 90. Geburtstag, möchte ich, wenn auch nicht zum ersten Mal, einen tieferen Grund nennen, warum die Metz’sche Theologie einen so fundamentalen Einfluss auf meine theologische Arbeit entfalten konnte. Dazu greife ich gern auf ein Märchen zurück, auf das Metz gelegentlich Bezug nahm, um uns Studierenden die Unzulänglichkeit einer auch heute noch weithin subjektlosen, „idealistischen Theologie“ vor Augen zu führen. Ich meine das Märchen vom Hasen und dem Igel der Brüder Grimm: Der Igel geht vor dem vereinbarten Wettlauf mit dem Hasen noch mal kurz nach Hause (zum Frühstücken, wie er sagt), um seine Igelfrau zu holen, die bekanntlich genau so aussieht wie ihr Mann, um sie am oberen, entfernteren Ende der Ackerfurche zu postieren, während er sich am unteren Ende neben dem Hasen zum Lauf aufstellt. Wie man weiß, fällt der Hase auf den Igeltrick herein: Er läuft und läuft in seiner Furche; der Igel ist, hier wie dort, immer schon da. Und schließlich – beim siebenundsiebzigsten Lauf – rennt und stürzt sich der Hase auf dem Ackerfeld zu Tode.

Metz wollte mit diesem Text ein bestimmtes Anliegen seiner Rede vom Gott Jesu Christi deutlich machen, nämlich Sympathie zu zeigen für die Kleinen, für die Langsamen und Zu-Kurz-Gekommenen, indem er — zu unserer Überraschung — die gängige Logik des Märchens kurzerhand außer Kraft setzte und sich erlaubte, nicht für den Igel, sondern für den Hasen Partei zu ergreifen.

Aus dieser Lesart habe ich als Theologe Entscheidendes gelernt: Wer von Gott spricht – in welcher Form und in wessen Auftrag auch immer — darf um keinen Preis selbst mit einem solchen Igel-Trick arbeiten. 

Wer von Gott spricht, kann sich das Laufen, also die Hasen-Rolle, nicht ersparen. 

Welche Erfahrungen vom Leben, welche Erfahrungen mit Gott hätte er sonst vorzuweisen? Worüber sollte der reden? Gott ist ja kein ausgeklügelter Trick, den die Theologen nur geschickt verkaufen müssen, so wie der Igel dem Hasen verkauft, er würde laufen und zudem auch noch der Schnellere sein. Auch die Kirchen erwecken oft den Eindruck, sie seien hier wie dort immer schon da mit ihren Antworten, manchmal bevor die Fragen überhaupt gestellt sind. Sie postieren sich gern – in trickreicher Verdopplung – an beiden Enden der Weltgeschichte und sind mit ihren „ewigen Wahrheiten“ über Gott und die Welt uneinholbar immer schon da. 

Theologie als zeitloses Antwort-Set für existenzielle Fragen wurde von Metz als Mogelpackung ein für alle Mal entlarvt. Die Kirche verfügt über gar kein Wissen, das sie ohne den Preis neuer und vor allem eigener Erfahrungen gefahrlos und leidenschaftslos mitteilen könnte. Folglich können Christen sich das Laufen mit all seinen Höhen und Tiefen gerade nicht ersparen. Schon deshalb nicht, weil der Jude Jesus selbst losgelaufen, sich aufgerieben und auf Golgotha auf der Strecke geblieben ist. Hier zeigt sich die kritische Stoßrichtung Metz’scher Theologie. Metz beklagt, dass das kirchlich verfasste Christentum mit dem Verlust seines jüdischen Erfahrungsursprungs selber zum Ausdruck einer schicksalslos-idealistischen, zur „Compassion“ weithin unfähigen Vernunft geworden ist.

Mystik und Politik

Die realgeschichtliche Erfahrung einer zur Unvernunft pervertierten und in ihrem Totalitätsanspruch selbstverblendeten Vernunft hatte schon Adorno dazu bewogen, nicht in der Diskursivität des Denkens, sondern in der Symbolgebrochenheit der Kunst den Selbstbescheidungsprozess der Vernunft erhoffen zu dürfen. Diese Erfahrung hat Metz wie kein zweiter für die Theologie fruchtbar gemacht durch eine — wie er es nennt — „Mystik der schmerzlich geöffneten Augen“, die nicht nur nahe Nächste, sondern gerade „die fremden Anderen“ in den Blick zu nehmen versuche: Vergessene, Ausgebeutete, Verfolgte zum Beispiel. Gerade darin dürfte in diesen Tagen wieder ein besonders vordringlicher politischer Impuls seiner Theologie zu erkennen sein.

Mystik und Politik erweisen sich somit als zwei Stränge ein und derselben jüdisch-christlichen Wurzel: Sie verbinden Leidenschaft für Gott mit Leidempfindlichkeit für andere. Diese Einsicht markiert für mich selbst eine mit den Jahren biografisch wie lebenspraktisch erarbeitete und eingeübte Überzeugung. Sie äußert sich in einer Spiritualität, mit deren Hilfe ich die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen „praktisch“ weitererzähle, indem ich gleichzeitig bereit bin, heilend mitzuwirken.

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