Abschied vom „lieben Gott“

| Von Ludger Verst |

Man kann machen, was man will. Der „liebe Gott“ mit langem Bart und weißem Mantel ist und bleibt ein Dauerrenner. Vor allem Kinder stellen sich ihn so vor. Erst etwa ab dem 7./8. Schuljahr steuern Schüler ihre Gottesbeziehung mehr und mehr selbstbestimmt in eine andere Richtung. Ein zuvor soziomorphes Bild, bei dem Gott als eine beziehungsdominante, menschenähnliche Handlungsmacht hervortritt, wandelt sich in ein kosmomorphes Gottesbild, dargestellt in überwiegend naturalen und unpersönlichen Metaphern. Viele betonen jetzt die Ort- und Zeitlosigkeit Gottes. Die 13-jährige Laetizia sagt: „Gott ist einfach da; er ist überall, zum Beispiel in der Liebe.“ Andere nennen Gott jetzt Atem, Quelle, Licht, Kraft oder Energie.

Jugendliche und junge Erwachsene sehen sich und Gott zusehends mit je eigenen Zuständigkeiten und Entscheidungskompetenzen ausgestattet. Sie fühlen sich Gott gegenüber souverän und eigenständig. Die für die Theologie bedeutsame Wahrheitsfrage spielt für Jugendliche kaum eine Rolle. Glaubenssätze, Normen und Riten werden gesampelt. Logische Inkonsistenzen geben dabei keinen Anlass, irritiert oder beunruhigt zu sein. Jugendliche Glaubenskonzepte bestehen aus Fragmenten und Bruchstücken, die – für einen beobachtenden Dritten – oft widersprüchlich miteinander verbunden sind. Doch diese Widersprüchlichkeit stellt für sie kein Problem dar. Auch die Achtklässlerin Laetizia hat inzwischen eine selbstreflexive gläubige Sichtweise entwickelt, bei der Gott auf eine andere, neue Weise ihrer eigenen Bedürfnisstruktur entspricht.

Generell lässt sich sagen:

  • Jugendliche denken und agieren in religiöser Hinsicht heute pragmatisch. In diesem Rahmen verorten sie ihre Religiosität. Es ist eine subjektive Religiosität, die sie in der Auseinandersetzung mit objektiver Religion und so eben auch in Auseinandersetzung mit den Inhalten des (konfessionellen) Religionsunterrichts konstruieren. Spätestens in der Pubertät beginnen sich Jugendliche selbst immer mehr libidinös zu besetzen. Sie ziehen sich vom religiösen Objekt, von bestimmten Glaubensvorstellungen und Lerninhalten zurück und wenden sich intensiver ihrem eigenen Selbst und ihren eigenen Glaubensentwürfen zu.
  • Jugendliche setzen Religiosität strategisch ein. Sie steht im Dienste der Konstruktion der eigenen Biografie. Damit verändert sich die Bedeutung von Religion. Sie wird zu einer von biografischen Kontexten abhängigen Größe. „Nicht das Subjekt fügt sich ein in den von der Religion aufgespannten Ordo; vielmehr wird Religion selbst in einen Ordo eingefügt, nämlich den der Biografie“ (Matthias Sellmann). 

Dies berücksichtigend, könnte der Religionsunterricht in der Schule als ein Ort religiöser Biografiearbeit gestaltet werden. Das hieße, sich nicht nur, aber auch um solche Bedürfnisse, Begegnungen, Vorstellungen und Erkenntnisse der Lernenden zu bemühen, die der Orientierung und Stabilisierung ihres „narzisstischen Gleichgewichts“ dienen. Der Frankfurter Pastoralpsychologe Hermann-Josef Wagener hat genau an dieser Stelle entwicklungspsychologischer Forschung zeigen können, dass Glaubensinhalte, die die Selbstentfaltung der Lernenden nicht bestätigen und fördern, aus dem Gottesbezug ausgeschieden oder separiert werden. So entsteht im autonom-narzisstischen Formenkreis, so seine Bezeichnung, entweder ein fragmentarisierter Glaube der Indifferenz und des Zweifels bis hin zu kompletter Ablehnung oder eine bewusste Abgrenzung zum bisher erlernten Glauben im Sinne einer emanzipatorischen Neugestaltung, wie das Laetizia-Beispiel zeigt. 

Also: Wer den Absprung vom lieben Gott der Kindheit mit Bart und langem Mantel noch nicht so ganz hinbekommen hat: Er/sie muss nicht um jeden Preis den feministischen Umweg nehmen. Einen Gott als Best-Agerin mit wallendem Haar und mildem Blick …? Es lauert auch hier ein im Grunde entbehrlicher Anthropomorphismus.

Das Göttliche ist keine Entität. Es besteht nicht aus vorfindbaren Qualitäten, wie es die schlichte Rede vom Vater-Gott oder Mutter-Gott suggeriert. Substanzmetaphysik führt hier nicht wirklich weiter. Vom Prozessphilosophen Alfred North Whitehead (1861-1947) stammt der schöne Satz: „Gott ist der Spiegel, der jedem Geschöpf seine eigene Größe enthüllt.“

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